Die Zusammenkunft des Landesparlamentes im Plenarsaal stellt ein Novum dar: Statt mit der Plenartagung zu beginnen, haben die Abgeordneten am heutigen Mittwoch (18. November) eine ganztägige Experten-Anhörung zur Corona-Pandemie durchgeführt. Zu Wort sind im Laufe des Tages insgesamt zehn Experten gekommen, neben Medizinern und Juristen auch Wirtschaftsexperten und ein Krisenforscher. Sie hielten zehnminütige Eingangsstatements, zu denen die Abgeordneten direkt Nachfragen stellen konnten. Die Fachausschüsse des Landtages werden die Themen im Detail weiter beraten.
Landtagspräsident Klaus Schlie zeigte sich in seinen einleitenden Worten bei der Eröffnung überzeugt, dass die einmalig in der Geschichte des Landtages verkürzte Tagung zugunsten dieses Meinungsbildungsprozesses „Nachhaltigkeitscharakter“ haben wird. Die Anhörung sei „am Puls der Zeit“ und biete auch der Bevölkerung wichtige Antworten in schwierigen Zeiten, sagte Schlie, bevor er an die leitende Amtsärztin des Gesundheitsamtes Alexandra Barth und den Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie der Kieler Uni, Philip Rosenstiel, übergab. Nach Meinung der beiden Experten wird die Corona-Pandemie frühestens in einem Jahr eingedämmt werden können – vorausgesetzt die Impfmittel werden die bisher vielversprechende Wirkung zeigen.
Themenblock: Einführung in die aktuelle Pandemielage
„Dann läuft sich die Epidemie tot“
Barth und Rosenstiel machten in der Hybrid-Veranstaltung, in der einige Experten sowie Abgeordnete per Video zugeschaltet werden, den Ernst der derzeitigen Lage deutlich und warben für strengere Maßnahmen, um den Virus einzudämmen. Barth warnte eindringlich: „Wenn die Einschränkungen so lasch bleiben, werden wir schnell nicht mehr handlungsfähig sein.“ Sie regte unter anderem eine einen Monat dauernde komplette Ausgangssperre an: „Dann läuft sich die Epidemie tot.“
Nur einfache Appelle reichten nicht aus, schloss Uni-Professor Rosenstiel an. Es müsse „klare rechtliche Grundlagen geben“, auf denen entschieden werde – „damit auch die irren Verschwörungstheorien aufhören“. Seiner Ansicht nach werde die „Wellenbewegung“ der Pandemie voraussichtlich bis weit ins kommende Jahr weitergehen. Rosenstiel mahnte, die Testkapazitäten nicht zu überlasten. „Dann werden wir blind.“ Massentests lehne er daher klar ab. Die Amtsmedizinerin Barth machte noch darauf aufmerksam, dass die Gesundheitsämter in Schleswig-Holstein derzeit am Limit arbeiten würden. Mit Hilfe der Bundeswehr sei man aber vernünftig ausgestattet; mehr Laien-Helfer würden eher lähmen als helfen.
Vielschichtige Nachfragen der Abgeordneten
Sowohl Abgeordnete der Jamaika-Koalition als auch der Opposition stellten nach den Eingangsstatements der Experten zahlreiche Nachfragen. So interessierten sich etwa Marret Bohn (Grüne) und Lars Harms (SSW) für die Lage an den Schulen im Land – ein Thema das heute Nachmittag in einem separaten Themenblock noch vertieft wird. Für CDU und SPD stand die Versorgung der Krankenhäuser und die Belastung des dortigen Personals im Fokus. Die FDP nahm insbesondere wirtschaftliche Aspekte ins Visier – auch das wird heute am späten Nachmittag noch vertieft –, und für den AfD-Zusammenschluss im Landtag fragte Claus Schaffer nach regionalen Eindämmungsmaßnahmen.
Themenblock: Rechtliche Themen
Mut zu „regionalen Entscheidungen“ und zu „mehr Parlament“ gefordert
Die Landesparlamente sollten bei der Bewältigung der Corona-Pandemie eine bedeutendere Rolle spielen als bisher. Das haben namhafte Verfassungsjuristen im zweiten Teil der Expertenanhörung, die rechtliche Fragen behandelte, gefordert. Für eine stärkere Position der Parlamente gebe es rechtliche Grundlagen – insbesondere seit der Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) durch Bundestag und Bundesrat, die in Berlin parallel zur Kieler Anhörung über die Bühne ging. An der umstrittenen Neufassung des IfSG übten die Experten teils scharfe Kritik, ebenso an der rechtlichen Handhabung der Corona-Krise durch den Bund und die Landesregerungen.
Florian Becker, Professor für öffentliches Recht an der Uni Kiel, machte drei Fehlentwicklungen aus. So gebe es eine „Zentralisierung“ der Corona-Politik, die für Länder und Kommunen eine „freiwillige Aufgabe der eigenen Kompetenzen zugunsten einer Vereinheitlichung unter Aufsicht des nicht zuständigen Bundes“ mit sich bringe. Becker appellierte an den „Mut zu eigenen regionsspezifischen Entscheidungen“. Zudem gebe es eine „Ent-Individualisierung“. Die Menschen in Deutschland seien „ein großes Volk von Corona-Bekämpfern geworden“, und auch diejenigen, „die am Infektionsgeschehen nur wenig beteiligt sind“, würden in „Mithaftung“ genommen.
Kritik an Paragraf 28a
Und schließlich sei eine „Ent-Parlamentarisierung“ zu beobachten, so Becker. „Alles, was die Regierung als Verordnung beschlossen hat, hätten Sie auch per Gesetz beschließen können“, hielt Becker den Abgeordneten vor. Das Argument, eine parlamentarische Beteiligung sei zu zeitaufwendig, hielt der Professor für öffentliches Recht Uwe Volkmann aus Frankfurt am Main für nicht stichhaltig. Ein klassisches Gesetzgebungsverfahren sei „besser als eine Absprache zwischen Bund und Landesregierungen mit anschließender Verkündigung der Ergebnisse auf einer Pressekonferenz“. Sein Professoren-Kollege von der Uni Bayreuth, Stephan Rixen, meinte, es schlage „jetzt wieder stärker die Stunde des Parlaments“, da das neue IfSG die Länder stärker in die Verantwortung nehme.
Kernpunkt des neuen Gesetzes ist der Paragraf 28 a, der die möglichen Beschneidungen im privaten und öffentlichen Leben präziser als bisher benennt. Demnach können die Länder Abstandsgebote, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Geschäftsschließungen oder eine Maskenpflicht anordnen. Der FDP-Abgeordnete Jan Marcus Rossa monierte, dass das neue Gesetz keine Aussage enthalte, „welche Maßnahmen wann nötig sind“. Auch Claus Schaffer (AfD) sah lediglich eine zusammenhanglose „Auflistung von Einzelmaßnahmen“.
„Chance für die Parlamente“
Für die Parlamente biete der neue Paragraf aber eine Chance, so die Verfassungsjuristen. Der Kieler Prof. Becker sah die „Gesetzgebungskompetenz für den Landesgesetzgeber“ gestärkt: „Grundsätzlich hat das Parlament ein Zugriffsrecht.“ Prof. Rixen sprach sich dafür aus, „dass eine Parlamentarisierung der Pandemiebewältigung beginnt“. Und Prof. Volkmann schlug vor, die Corona-Verordnungen der Landesregierung „an die Zustimmung des Parlaments zu binden“. Dem Parlament stehe ein „Spagat zwischen Beteiligung und dem schnellen Handeln der Regierung“ bevor, betonte die Grünen-Abgeordnete Aminata Touré.
Lars Harms (SSW) warf die Frage auf, in welchem Rahmen Demonstrationen in Zeiten von Corona ablaufen können. Es kollidierten zwei Grundrechte, so Harms: „Demonstrationsrecht kontra körperliche Unversehrtheit.“ Angesichts der „Querdenker-Demos“ der jüngsten Zeit merkte er an: „Die Leute verstehen nicht, dass es immer noch diese Demos gibt, obwohl die Ansteckungsgefahr dort besonders groß ist.“
Themenblock: Sozial-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik
Schulen sollen offen bleiben
Der Themenblock zur Sozial-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik wurde von der Frage bestimmt, welche Folgen die Corona-Pandemie auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen hat und warum Schulen möglichst geöffnet bleiben sollten. „Der psychische Druck auf uns alle ist gestiegen“, sagte Kamila Jauch-Chara, ärztliche Direktorin des Zentrums für Integrative Psychiatrie in Kiel und Psychologieprofessorin an der Kieler Uni. Die Zahl derjenigen, die Hilfe suchten, steige. Insbesondere für Kinder und Jugendliche sei die Belastung groß, so Jauch-Chara. Vor der Pandemie hätten beispielsweise 18 Prozent der jungen Leute angegeben, unter psychischer Belastung zu leiden, heute seien es mit 40 Prozent mehr als doppelt so viele.
Dabei seien diejenigen besonders betroffen, die in beengten Wohnverhältnissen mit weniger als 20 Quadratmetern pro Person auskommen müssten. „Es gibt dann keine Rückzugsmöglichkeit“, sagte die Professorin. Die Kinder und Jugendlichen seien Stresssituationen in Familien ausgeliefert, psychische Störungen könnten die Folge sein. Auch vor diesem Hintergrund sei es wichtig, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten. Auch sei es wichtig, dass die Menschen einen Ausgleich hätten, beispielsweise durch Ausdauersport. Eltern riet sie, ihren Kindern bei Gesprächen über die Corona-Pandemie die Wahrheit zu sagen.
Kitas und Schulen sind keine Infektionstreiber
„Kinder und Jugendliche sind wenig gefährdet durch Corona“, sagte der Kinderarzt Ralf van Heek, Landesverbandsvorsitzender im Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte. Andere Infektionen oder Nicht-Impfungen seien wesentlich gefährlicher für Kinder. Das Virus gelange eher über Erwachsene in die Familien. Das Infektionsrisiko in und aus Einrichtungen wie Schulen und Kitas sei eher niedrig. Als „absolut undenkbar und lebensfremd“ bezeichnete er Überlegungen, Kindern vorzuschreiben, nur noch einen ihrer Freunde zu treffen.
Der Krisenforscher Frank Roselieb, Direktor eines „Spin-Off“-Forschungsinstituts der Kieler Uni, unterstrich die möglichen Folgen von neuerlichen Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie – und lehnte sie ab. Dies hätte Folgen für die Wirtschaft, wenn Betriebe ihre Mitarbeiter deshalb vermehrt ins Home-Office schickten. „Das käme einem Lockdown gleich“, so Roselieb.
Maskentragende Kinder fühlen sich erwachsen
In zwei Fragerunden stellten die Parlamentarier ihre Nachfragen. Der CDU-Abgeordnete Tobias von der Heide (CDU) wollte etwa wissen, ob die Schulen als Infektionstreiber angesehen werden könnten. Dies verneinten Jauch-Chara und van der Heek. Es gebe derzeit keine Hinweise auf „nennenswerte Einträge“ aus Schulen. Das Infektionsgeschehen in und aus den Einrichtungen heraus sei eher gering.
Ob die Maskenpflicht an den Schulen dann gerechtfertigt sei, fragte der Abgeordnete Jörg Nobis (AfD). „Die Wirkung ist empirisch nicht gut untersucht“, antwortete van Heek. Darum habe sich sein Verband noch im August gegen eine Maskenpflicht an Schulen ausgesprochen. Die Erfahrung zeige aber, dass die Masken inzwischen auch „an den Grundschulen gut akzeptiert“ würden. Auch die befürchteten Hautprobleme seien ausgeblieben, so der Kinderarzt. Die Kinderpsychologin sah sogar einen positiven Effekt: „Die Kinder fühlen sich erwachsener“, so die Professorin.
Themenblock: Wirtschaft
„Wir brauchen eine Gesamtstrategie“
Im vierten und letzten Block, in dem sich die Anhörung um wirtschaftliche Probleme und Perspektiven der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise drehte, machten die zwei geladenen Experten vor allem eins deutlich: Um die Wirtschaft langfristig zu stabilisieren, ist ein Gesamtkonzept notwendig – das fehle bislang. „Wir brauchen eine konsistentere Gesamtstrategie als bisher“, so Henning Vöpel, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hamburg School of Business Administration. Die derzeitigen Maßnahmen seien „sehr unausgegoren“, kritisierte auch Gabriel Felbermayr, der an der Kieler Uni ebenfalls als Professor für Volkswirtschaftslehre tätig ist und als Präsident des Instituts für Weltwirtschaft an der Kieler Förde fungiert.
Besonders die kürzlich verabschiedeten Novemberhilfen bezeichnete Felbermayr als „handwerklich höchst problematisch“. Kredite und Bürgschaften, so sein Hamburger Kollege Vöpel, seien „Instrumente für kurze Perioden“. Besser wäre es laut den beiden Volkswirtschaftlern gewesen, statt Umsatzausfälle Betriebsüberschüsse zu erstatten.
„Keine Wirtschaftskrise im eigentlichen Sinne“
Generell, so das Resümee Felbermayrs, sei Schleswig-Holstein mit einem Defizit von 3,8 Prozent gegenüber 6,6 Prozent im Bundesschnitt für das erste Halbjahr bislang vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Das sei vor allem damit zu erklären, dass es im Land wenig Industrie gebe. Dort seien die Einbußen bundesweit besonders stark. Auffällig sei hierzulande, dass man als Standort für Medizintechnik „auf das richtige Pferd gesetzt“ habe. Zudem sei die Bevölkerung „disziplinierter als anderswo“. Der Kieler Volkswirtschaftsfachmann stellt auch klar: „Wir haben keine Wirtschaftskrise im eigentlichen Sinne“. Die Corona-Krise sei eher vergleichbar mit einer Naturkatastrophe, die mit temporären Einbußen für die Wirtschaft einhergehe.
Gezielte Maßnahmen seien auf lange Sicht wichtig, trotzdem war kurzfristige Hilfe notwendig, resümieren die Experten. Als besonders positiv hoben sie das Kurzarbeitergeld hervor. Auch das schnelle Handeln der Politik zu Beginn der Krise im Frühjahr sei als Erfolg zu werten, antworteten sie auf die Frage des Abgeordneten Kai Vogel (SPD) nach der „positiven Seite des Corona-Schocks“. Die „Auslagenpolitik“ der Bundesregierung, also sehr viel Geld zur Verfügung zu stellen, „auch wenn es nachher nicht abgerufen wird“, sei aus ökonomischer Sicht ebenfalls eine gute Maßnahme gewesen, so Felbermayr.
Weitere Nachfragen aus den Abgeordnetenreihen kamen etwa von Lukas Kilian (CDU) zur ausgesetzten Insolvenzantragspflicht, von Lasse Petersdotter (Grüne) zur Situation von Geringverdienern, von Kay Richert (FDP) zur Rolle der Politik bei einem künftigen Strukturwandel oder von Christian Dirschauer (SSW) zu Beschäftigten in der Baubranche.
Die Experten und der Zeitplan im Überblick:
10 bis 11:30 Uhr: Einführung in die aktuelle Pandemielage
Dr. Alexandra Barth, Leitende Amtsärztin des Gesundheitsamtes in Neumünster, FA f. Innere Medizin u. Öffentl. Gesundheitswesen, Sozialmedizin, und Vorsitzende des Landesverbandes Schleswig-Holstein der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst e.V.
Prof. Dr. Philip Rosenstiel, Direktor am Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB), CAU Kiel, und Leiter der Gruppe Systemimmunologie. Mitglied mehrerer großer Konsortien, die die genomische und epigenomische Architektur menschlicher (entzündlicher) Krankheiten beschreiben; Teilnehmer des interdisziplinären Expertengremiums der Landesregierung
11:30 bis 13 Uhr: Rechtliche Themen
Prof. Dr. Florian Becker, Professor für Öffentliches Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Prof. Dr. Stephan Rixen, Professor für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht (Lehrstuhl für Öffentliches Recht I) an der Universität Bayreuth
Prof. Dr. Uwe Volkmann, Professor für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Goethe- Universität in Frankfurt am Main
15 bis 16:30 Uhr: Sozial-, bildungs- und gesellschaftspolitisches Themenfeld
Prof. Dr. Kamila Jauch-Chara, seit Oktober 2017 Professorin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP gGmbH; Teilnehmerin des interdisziplinären Expertengremiums der Landesregierung
Dr. Ralf van Heek, Kinder- und Jugendarzt, Gesundheitszentrum Altenholz, und Landesverbandsvorsitzender im Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte e.V.
Frank Roselieb, Geschäftsführender Direktor und Sprecher des „Krisennavigator“ Institut für Krisenforschung, ein „Spin-Off“ der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Teilnehmer des interdisziplinären Expertengremiums der Landesregierung
16:30 bis 18 Uhr: Wirtschaft
Prof. Gabriel Felbermayr, Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, seit März 2019 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie; Mitherausgeber des European Economic Review; Assoziierter Herausgeber der Zeitschrift der European Economic Association; Teilnehmer des interdisziplinären Expertengremiums der Landesregierung
Prof. Dr. Henning Vöpel, Professor für Volkswirtschaftslehre an die HSBA Hamburg School of Business Administration berufen, seit September 2014 Direktor und Geschäftsführer des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI)