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23. November 2022 – November-Plenum

Streit um Leistungsabfall bei Grundschülern

Die Qualität der Leistungen von Erst- bis Viertklässlern an den Grundschulen ist weiter gesunken. Diskussionen gab es vor allem darüber, welche Rolle benachteiligte Kinder spielen.

Der SPD-Abgeordnete Martin Habersaat hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
Der SPD-Abgeordnete Martin Habersaat hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
© Foto: Michael August

Corona und die damit verbundenen Schulschließungen haben zu „massiven Problemen“ an den Grundschulen geführt. Immer mehr Erst- bis Viertklässlern fehlen die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Das erklärte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) in ihrem Bericht zu den Ergebnissen des neuen „IQB-Bildungstrends 2021 ‒ Kompetenzen in den Fächern Deutsch Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich“. Während der breiten bildungspolitischen Debatte gab die Opposition der Regierungskoalition auch schlechte Noten bei Inklusion und Unterrichtsversorgung.

CDU-Bildungsministerin Karin Prien hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
CDU-Bildungsministerin Karin Prien hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
© Foto: Michael August

In der Pandemie habe sich ein negativer Trend fortgesetzt. Das gelte vor allem für sozialbenachteiligte Schüler und vor allem in Mathe, wo sich die Leistungen seit 2011 verschlechterten, konstatierte Ministerin Prien. Selbstkritisch räumte sie ein, Bildung hätte in der Corona-Zeit gesamtgesellschaftlich mehr Priorität haben müssen. Deutliche Nachteile gebe es vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund. „Und die Lernrückstände an den Übergängen sind besonders prägnant“, so Prien. Die Landesregierung wolle daher Förderungen ausbauen, mehr Unterricht anbieten und bisher freiwillige Programme verpflichtend einführen.

SPD wirft „Verneblungsstrategien“ vor

Martin Balasus (CDU) sprach von einem „düsteren Bild“. Corona sei jedoch nicht ausschließlich dafür verantwortlich, sondern habe „als Katalysator für einen sich schon langfristig abzeichnenden Trend“ gewirkt. Schwarz-Grün forderte eine Gesamtstrategie sowie zusätzlich Campusklassen für Schüler mit Förderbedarf. Das sei „eine ideale Möglichkeit, individuell auf jeden Schüler eingehen zu können.“ Die Idee: Campusklassen an allgemeinbildenden Schulen sollen Schüler im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung im Rahmen der Inklusion an einzelnen Orten beschulen. Der entsprechende Antrag wurde einstimmig angenommen.

Martin Habersaat (SPD) hielt der Bildungsministerin „Vernebelungsstrategien“ vor. Sie mache Politik „gegen die Inklusion“ und „gegen Schülerinnen und Schüler mit Migrationspolitik“. Er sprach sich für mehr Unterrichtsqualität statt nur mehr Schulstunden an sich aus. Malte-Jannik Krüger (Grüne) hielt dagegen: „Es ist nicht der Inklusionsgedanke selbst, der für den Leistungsabfall verantwortlich ist.“ Er warnte vor Miss-Interpretationen. Nötig seien „weitere wissenschaftliche Analysen, um mehr Klarheit über die richtigen Maßnahmen zu gewinnen“.

FDP für Qualitätsoffensive

Jette Waldinger-Thiering (SSW) nannte das Handeln der Landesregierung „Augenwischerei“ und „Schöngerede“. Die sozialen Ungleichheiten in Schleswig-Holstein verstärkten sich. „Da, wo die soziale Schere auseinandergeht, muss unbedingt gehandelt werden“, verlangte Waldinger-Thiering mehr Fachlichkeit in diesem Bereich. 

Die FDP forderte eine Qualitätsoffensive für Grundschulen. „Von Bildungsgerechtigkeit sind wir im Land noch sehr weit entfernt“, sagte Fraktionschef Christopher Vogt. Der Antrag der Liberalen, der neben flächendeckenden Schuleingangsuntersuchungen auch mehr Unterrichtszeit vornehmlich für Deutsch und Mathe und mehr Förderangebote vorsieht, wurde wie ein Antrag von Schwarz-Grün für „ein Konzept zur Verbesserung der Leistungen von Grundschulschülerinnen und -schülern an den Bildungsausschuss überwiesen.

In einer breiten bildungspolitischen Debatte greifen die Landespolitiker vier Themen auf. Debattiert werden soll zum einen die Fortentwicklung von sogenannten Campusklassen an allgemeinbildenden Schulen, in denen Schüler im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung im Rahmen der Inklusion an einzelnen Orten beschult werden. Hier fordern die Koalitionsfraktionen ein Rahmenkonzept, um „eine Rechtssicherheit mit einer pädagogischen und auch statistischen Einordnung“ bei der Einrichtung weiterer Klassen sowie „der Weiterentwicklung kooperativer Modelle für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung“ zu gewährleisten. Weiter geht es in der Aussprache um die Leistungen der Grundschüler sowie um den jährlichen Regierungsbericht zur Unterrichtsversorgung.

Auf Antrag der Oppositionsfraktionen soll die Landesregierung mündlich zu den Ergebnissen des neuen „IQB-Bildungstrends 2021 ‒ Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich“ Stellung nehmen. Laut der Mitte Oktober bei der Kultusministerkonferenz (KMK) in Berlin vorgestellten Studie des Instituts für Qualität im Bildungswesen (IQB) erreichen Grundschüler in Schleswig-Holstein einen Platz im Mittelfeld. Beim Lesen, in der Rechtschreibung und der Mathematik liegt Schleswig-Holstein im Durchschnitt. Beim Zuhören schneiden die Kinder im nördlichsten Bundesland im Mittel besser ab als der deutsche Durchschnitt.

Prien: Gesamtentwicklung besorgniserregend

SPD, FDP und SSW fragen nach den „Ursachen für den Leistungsrückgang in allen gemessenen Kompetenzbereichen“, den „Umstand, dass Schleswig-Holstein eines von sechs Ländern ist, in denen eine signifikante Verstärkung der sozialen Ungleichheiten festgestellt wurde“, den „Umstand, dass Schleswig-Holstein eines von fünf Ländern ist, bei denen keine Angaben zur Ausstattung der Schulen mit technischen Endgeräten, WLAN oder dem Vorhandensein von Medienkonzepten möglich sind“ sowie den „Ursachen, aufgrund derer keine Aussagen zu Fernunterricht und Wechselunterricht in der Corona-Krise möglich waren“.

Bei der Erläuterung der neuen Studie hatte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) mitgeteilt, in Schleswig-Holstein habe der Anteil von Risikoschülerinnen und Risikoschülern seit 2016 signifikant zugenommen, und der Anteil der Schüler, die den Regelstandard erreichen abgenommen. Dies gelte auch für Lesen und Rechtschreibung. Dagegen gebe es im Norden im Vergleich zum Bundesdurchschnitt weniger Risikoschüler im Bereich Lesen und Zuhören. Bundesweit stellt die Studie einen negativen Trend fest. Viertklässler seien im Vergleich zu Gleichaltrigen vor zehn Jahren deutlich zurückgefallen.

Koalition verlangt „Gesamtstrategie“

Die Gesamtentwicklung bezeichnete die Ministerin als besorgniserregend, das gelte besonders für Mathematik. Die Belastungen durch die Corona-Pandemie mit Schulschließungen, Wechselunterricht und Distanzlernen seien Erklärungen. Aber auch die fortschreitende Inklusion sowie die Zunahme der Kinder mit Migrationshintergrund spielten eine Rolle. Prien sagte, mit der Sprachförderung müsse noch eher begonnen werden. Für Fortschritte seien auch Verbesserungen der Qualität in der Aus- und Fortbildung von Lehrern entscheidend.

Auf den guten Ergebnissen, wie etwa im Bereich Zuhören, müsse aufgebaut werden; wo Leistungen gesunken sind, müsse gehandelt werden, schreiben die Koalitionsfraktionen in einem eigenen Antrag zum Thema. Sie leiten daraus die Forderung nach einer „Gesamtstrategie“ ab. Sie soll aufzeigen, „welche Maßnahmen zusätzlich ergriffen werden, um in den kommenden Jahren für alle Basiskompetenzen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern“. Dabei seien Schwerpunkten auf Lesen, Schreiben und Rechnen zu legen. Konkret wird unter anderem „die Berücksichtigung aller Phasen des Bildungsverlaufs von der Kita bis zu den Schulabschlüssen“ genannt.

Zahlen aus dem Corona-Schuljahr 2021/22

Ein weiteres Thema der Debatte ist der jährliche Regierungsbericht zur Unterrichtssituation. Hier zeigt sich, dass die Schülerzahl im vergangenen Schuljahr angesichts des Flüchtlingsstrom aus der Ukraine angestiegen ist und dass das vergangene Schuljahr erneut im Fokus der Corona-Pandemie stand. Gleichwohl sei es gelungen, „mit einer Vielzahl an Maßnahmen, Konzepten und Entwicklungen das Unterrichtsgeschehen an den Schulen aufrechtzuerhalten und Unterstützungsangebote bei pandemiebedingten Belastungen zu bieten“. Bei der Unterrichtsversorgung weist der Bericht eine Quote von 102 Prozent an allen allgemeinbildenden Schularten sowie 102 Prozent an den berufsbildenden Schulen aus.

Die Unterrichtsversorgung gibt an, zu wie viel Prozent der landesweite Stellenbedarf der Schulen gedeckt ist. Allerdings kann es auch einer Unterrichtsversorgung von über 100 Prozent zu Ausfallstunden kommen, etwa bei Erkrankung von Lehrkräften. Gemessen an der statistischen Relation „Unterrichtsstunde je Schüler“ zeigt der Regierungsbericht für die allgemeinbildenden Schulen und Förderzentren einen leichten Rückgang von 1,69 auf 1,68 ‒ dies ergebe sich aus einer nahezu unveränderten Anzahl an Unterrichtswochenstunden bei gleichzeitigem Anstieg der Schülerzahl um 0,5 Prozent. Für die berufsbildenden Schulen wird eine Verbesserung des Messwertes „Unterrichtsstunde je Schüler“ von 1,05 auf 1,06 festgestellt, da hier einem Schülerzahlenrückgang von gut Minus 2,5 Prozent ein Rückgang von nur Minus 0,9 Prozent der Unterrichtswochenstunden gegenübersteht.

Mehr Schüler, vor allem an Grundschulen

Gestartet ist das Schuljahr 2021/22 mit rund 275.700 Schülerinnen und Schüler. Laut dem Bericht bedeutet dies einen Anstieg von gut 1.400 Schülern zum Vorjahr. Am stärksten ist die Schülerzahl an den Grundschulen gestiegen, um 1.100 (1,1 Prozent) auf knapp 101.700. Die Zahl der Schüler mit DaZ (Deutsch als Zweitsprache)-Förderung sei an allgemeinbildenden Schulen weiter gestiegen, von September 2020 bis September 2021 um rund 850 auf rund 26.800. Infolge des Kriegs in der Ukraine seien bis Mai 2022 noch einmal rund 4.500 geflüchtete Schüler hinzugekommen, davon rund 4.200 an allgemeinbildenden und rund 300 an berufsbildenden Schulen.

Mit Blick auf die Lehrkräfte weist der 120seitige Bericht zu Beginn des Schuljahres 2021/22 insgesamt 560 unbefristete Einstellungen aus, hinzu kämen 1.154 befristet Beschäftigte und 1.725 Vertretungslehrkräfte. „Insgesamt konnten in diesem Schuljahr 1.022 Lehramtsanwärterinnen und -anwärter in den Vorbereitungsdienst eingestellt werden“, heißt es.

(Stand: 21. November 2022)

Vorherige Debatten zum Thema:
März 2022 (Inklusion / 19. Wahlperiode)
November 2021 (Personalsituation, 19. Wahlperiode)
September 2021 (Ganztagsschule, 19. WP)
Juni 2020 (Unterrichtsqualität, 19. WP)

Antrag

Rahmenkonzept zur Etablierung von Campusklassen erstellen
Antrag der Fraktionen von CDU und B´90/Grüne ‒ Drucksache 20/256

Antrag

Absturz von Grundschulleistungen aufarbeiten
Antrag der Fraktionen von SPD, FDP und des SSW ‒ Drucksache 20/345

Antrag

Konzept zur Verbesserung der Leistungen von Grundschulschülerinnen und -schülern
Antrag der Fraktionen von CDU und B´90/Grüne ‒ Drucksache 20/398 
Alternativantrag der Fraktion der FDP ‒ Drucksache 20/450 

Regierungsbericht

Bericht über die Unterrichtssituation 2021/22
Bericht der Landesregierung ‒ Drucksache 20/325
(Federführend ist das Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur)